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Das Mendelsohn-Haus in Allenstein

Auf unserer Tour stoßen wir auf ein wundervolles Kleinod in der Stadt Allenstein / Olsztyn, welchem eher wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird, welches Ihr Euch aber nicht entgehen lassen und unbedingt anschauen solltet.

Das Mendelsohn-Haus

Aus der Potsdamer Zeit ist uns der Erbauer dieses feinen kleinen Ortes Erich Mendelsohn bereits bekannt. Er hat in Potsdam den Einsteinturm im dortigen Observatorium erbaut. Da bereits der Einsteinturm als ein architektonisch herausragendes Kunstwerk ist, wollten wir uns auch das Mendelsohn Haus in Allenstein nicht entgehen lassen.

Fast finden wir das Mendelsohn Haus nicht. Das Haus an sich liegt unauffällig in einer kleinen Seitenstraße inmitten von Allenstein. Es ist von außen so unscheinbar, dass wir ein paar Mal dran vorbeilaufen und glauben uns in der Straße geirrt zu haben.  Lediglich eine verwitterte Tafel weist auf den Erbauer hin. Wir hatten irgendwie mit einem imposanten Gebäude gerechnet und sind ein wenig enttäuscht.

Während wir rasch für uns ein Foto machen, werden wir von einer Dame angesprochen, welche aus dem Gebäude heraus kommt. Im gebrochenen Deutsch bietet Sie uns an, dass sie schnell eine Kollegin holen möchte, welche uns etwas zu dem Haus erzählen kann.
Höflich lehnen wir ab, da wir keine Mühe machen möchten, doch die Dame ist beharrlich. Mit den Worten: „hier geht niemand ohne eine persönliche Führung weg“ fordert sie uns auf zuwarten. Keine zwei Minuten später kommt ihre Kollegin. Diese spricht sehr gut deutsch und gehört zu der Borussia – Stiftung und Kulturgemeinschaft Olsztyn/Allenstein (polnisch Fundacja Borussia Olsztyn).

Ein kleines Schmuckkästchen

Das Mendelsohn Haus wurde 1911 bis 1913 als Taharahaus auf dem jüdischen Friedhof in Allenstein gebaut. Die Entwürfe hierfür lieferte der gebürtige Allensteiner Erich Mendelsohn. Er war Mitglied der jüdischen Gemeinde Alleinstein und somit auch die erste Anlaufstelle für die Gemeindemitglieder, als es um den Neubau ging.
Kein nichtjüdischer Architekt konnte so gut die Anforderungen an den Bau verstehen, wie ein Jude, welcher mit den Sitten und Gebräuchen der Gemeinschaft vertraut war. Erich Mendelsohn, der zu diesem Zeitpunkt in München studierte, wollte den Auftrag eigentlich nicht annehmen, da er die Kleinstadt nicht besonders schätzte und sich mehr oder weniger geschworen hatte diesen Ort nie wieder zu besuchen. Ließ sich dann doch überreden. Somit wurde das Taharahaus sein wirklich gelungenes Erstlingswerk.

Bereits der Eingangsbereich im stylischen zeitlosen schwarz-weiß überrascht uns durch seine Helligkeit und Größe, welche irgendwie dem äußeren Eindruck des Gebäudes zu widersprechen scheint.

 

Nach einer kurzen Einführung in die Geschichte des Hauses und Eckdaten zu dem Baumeister gehen wir weiter und betreten den Hauptraum, welcher heute für Ausstellungen, Vorträge und Weiterbildungen genutzt wird. Wir sind schwer beeindruckt von den reichhaltigen Verzierungen und den Räumen, welche jeder für sich eine ganz eigene Atmosphäre ausstrahlt und können uns kaum satt sehen.

Die Farben, Formen und wundervollen Mosaike!!! Unglaublich, was sich alles in dem unscheinbaren kleinen Haus verbirgt. Hier scheinen Raum und Zeit eine andere Dimension einzunehmen. Uns ist unbegreiflich, wie diese hohe Decke in ein Haus hinein passt, welches von außen so niedrig aussieht.

Mehr Informationen zu dem Haus gibt es hier.

 

Dem Zufall sei Dank!

Dabei ist nur dem Zufall zu verdanken, dass dieses beeindruckende und architektonisch wertvolle Gebäude der Nachwelt erhalten geblieben ist. Denn nicht nur in Deutschland, sondern auch in Polen wurden im zweiten Weltkrieg und weit darüber hinaus jüdische Bauwerke und Kulturgüter zerstört, die letzten Juden vertrieben und somit auch ein wesentlicher Bestandteil der Kultur Allensteins ausgelöscht. Denn gerade der norden Polens war von Juden besiedelt. Rund 10% der damaligen Bevölkerung waren jüdischer Abstammung und trugen so zu einem gesellschaftlichen Leben bei.

Als der Krieg vorbei war, benötigte die Stadt Allenstein ein Archiv. Hierfür wählte sie ausgerechnet das Taharahaus aus. Vielleicht weil es so zentral lag oder weil die Räume ebenerdig, großzügig und hell gestaltet waren? Wir wissen es nicht. So konnte das Gebäude auf jeden Fall bestehen bleiben, während der jüdische Friedhof 1960 eingeebnet wurde.

Auf Grund von Baumängeln und steigendem Platzbedarf wurde das Archiv verlegt und das baufällige Haus sollte abgerissen werden.
Faktisch gibt es kein jüdisches Leben mehr in Allenstein. Der wirtschaftliche, politische und polizeiliche Druck trieb von 1968 bis 1970 25.000 polnische Juden in die Emigration. 1989 lebten nur noch 5.000 bis 10.000 Juden von den ursprünglich 3.460.000 jüdischen Bürgern im Jahr 1939. Die noch in Polen lebenden Juden leben lieber in der Anonymität. So konnte das Gebäude nicht an die jüdische Gemeinde zurück übertragen werden.

Dank der Stiftung Borussia wechselte es dann den Besitzer und wurde von dem Verein 2008 mit viel Liebe restauriert. Hier gehts es zur Stiftung in Polen.

Seitdem ist das Mendelsohn Haus ein Ort der Begegnung und des kulturellen Austauschs.

Geschichte begreifen

Geschichte begreifen und kultureller Austausch. Es kann keinen besseren Ort geben, als das Mendelsohn Haus. Die Dame von der Borussia (deren Namen wir leider nicht aufgeschrieben haben, welche uns aber sicherlich immer in Erinnerung bleiben wird) erzählte uns nicht nur viel über die Geschichte Polens, der jüdischen Gemeinde und der Stadt Allenstein. Sie gab uns auch einen tiefen offenen und ehrlichen Einblick in ihre ganz persönliche Familiengeschichte. Quasi der Fortsetzung unserer Familiengeschichte.

Auf den Spuren unserer Familie haben wir viele Orte in Polen besucht. Das Geburtshaus vom Vater meines Mannes, das Grab seiner Oma, diverse Friedhöfe und Wohnorte von Onkels und Tanten. Oft hatten wir das Gefühl, dass die Geschichtsschreibung nicht vollständig ist oder die Sicht Polens wiedergibt. Viele Fragen wollte uns niemand beantworten.

Hier erzählte uns eine Polin, sehr reflektiert auf unser Nachfragen zu der polnischen Geschichte und Gesellschaft.
Wie ihre Großelten nur eine Woche Zeit hatten, den alten Hof im heutigen Weißrussland zu verlassen, um einen Hof in Masuren zu übernehmen. Mit einem Koffer und einer Schafschere kamen die Großeltern in Masuren an und betraten ein Haus, auf dessen Tisch noch ein warmes Mittagessen stand. Was für ein Gefühl!

Sie erzählte uns von den Problemen und der Not, welche die Großeltern in den ersten Jahren mit der Bewirtschaftung des fremden Hofes hatten und immer die Hoffnung, wieder in die alte Heimat zurückgehen zu können. Somit saß auch die folgende Generation auf gepackten Koffern. Lebte von der Hoffnung und wurde nie richtig heimisch. Erst unsere Gesprächspartnerin konnte diesen Landstrich als Heimat anerkennen.

Im Mendelsohn Haus gibt es keine Vorurteile. Hier gibt es nur Geschichten. Jeder hat seine Geschichte und gemeinsam ergeben sie ein gesamtes Bild.

Der Seele Frieden schenken

Wir sind so unendlich dankbar und tief ergriffen von diesem ehrlichen Austausch voller Emotionen und Verletzlichkeiten. Das Gespräch und dieser Ort haben sich tief in unsere Seele gegraben und aufgrund unserer eigenen Erfahrungen wissen wir die Arbeit der Borussia und anderer gleichartiger Stiftungen auf der Welt sehr zu schätzen. Sie geben den Vertriebenen und Vergessenen eine Stimme und den Seelen der Hinterbliebenen Ruhe. Danke, dass es Euch gibt! Danke, dass Ihr uns nicht ohne eine persönliche Führung gehen lassen habt.

Alte Grabsteine vom angrenzenden jüdischen Friedhof.

Erich Mendelsohn – ein ganz besonderer Mensch

Erich Mendelsohn wurde am 21. März 1887 als Sohn der Hutmacherin Emma Esther und des Kaufmanns David Mendelsohn in Allenstein geboren. Sein Geburtshaus ist noch gut erhalten und in der Altstadt in der Fußgängerzone zu finden. Aktuell ist ein Drogeriemarkt hier beheimatet.

Im Gegensatz zu seiner Familie, konnte er sich keinen schlimmeren Ort zum Leben vorstellen, als das kleine provinzielle Allenstein seiner Zeit. Seinem Vater zur Liebe absolvierte er eine kaufmännische Ausbildung. Jedoch trieb es ihn in die Ferne. Er wollte studieren, andere Länder und Kulturen entdecken. Seine ganze Liebe galt der Architektur. So zog es ihn schnell zum Studium nach Berlin und kurze Zeit später nach München. Hier entwickelte er bereits eine eigene Handschrift. Beeinflusst von Theodor Fischer und den blauen Reitern wurde er einer der Pioniere der Stromlinien-Moderne.

Er entwarf unter anderem den Einsteinturm in Potsdam und die Hutfabrik in Luckenwalde. Bis zum Zweiten Weltkrieg unterhielt er sein eigenes Architekturbüro in Berlin. Mit rund 40 Mitarbeitern zählte das Büro weltweit mit zu den größten Büros. Trotz Kriegswirren erlangte sein Büro weit über die Grenzen des Landes hinaus Bekanntheit. Neben weiteren Gebäuden in Deutschland, welche uns heute zum Teil noch erhalten sind, plante er Gebäude in der ganzen Welt.

Der Einsteinturm auf dem Gelände des Observatoriums in Potsdam.

Als jüdischer Bürger konnte er nicht im nationalsozialistischen Europa bleiben, sodass er in die USA auswanderte. Er setzte bis zu seinem Lebensende sein Wirken mit ganzem Herzen fort. Er verstarb am 15. September 1953 in San Francisco, Kalifornien an einem Krebsleiden.

Kontaktdaten

Das Mendelsohn Haus und die Stiftung Borussia findet Ihr unter der folgenden Adresse: Fundacja Borussia, Dom Mendelsohna, ul. Zyndrama z Maszkowic 2, 10-133 Olsztyn, Tel.: 0048 89 523 72 939. Wenn Ihr vorher anruft, könnt Ihr eine Führung vereinbaren. Es wird Polnisch, Russisch, Deutsch und Englisch gesprochen.

Auf der Homepage der Stiftung Borussia findet Ihr zahlreiche weitere Informationen. Es gibt auch Broschüren in der Deutschen Sprache. Neben den Führungen gibt es rund um das Jahr Vorträge und Ausstellungen. Es gibt in Leipzig die Freunde Borussia. Mit diesen gemeinsam werden auch Ausstellungen in Deutschland realisiert.

Auch, wenn Ihr Euch nicht mit der Geschichte auseinander setzen wollt, alleine die Architektur solltet Ihr Euch auf keinen Fall entgehen lassen. Die ist wirklich besonders und schafft einen noch einzigartigeren Ort.

 

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